Tiermärchen sind eine Form des Märchens, in dem Tiere die Hauptrolle spielen. Doch wie im Schicksalsmärchen der König, die Königin, die Prinzessin und der Prinz für Seelenqualitäten des Menschen an sich stehen, so im Tiermärchen die Tiere. Sie sind meist anthropomorphisiert, das heißt, sie sprechen und fühlen wie wir Menschen. Die Tiere im Märchen – sind wir selbst!
Ein wunderbares Beispiel ist „Das Eselein“ im Kinderteil. Wer von uns ist nicht im Leben zuerst ein Esel und wirft erst später die Eselshaut seines Egos ab, um im Licht des eigenen höheren Selbst als Prinz zu glänzen? Zudem macht dieses Märchen jedem Kind (und Erwachsenen) Mut, sich selbst Fähigkeiten zuzutrauen, die scheinbar schier unmöglich zu erreichen sind. Welcher Esel kann schon Laute spielen? – Kein Musiklehrer sollte dieses Märchen seinen Schülern vorenthalten, wenn das Üben einmal schwerfällt.
In jedem von uns wohnt ein Wolf, ein Fuchs, ein Frosch, ein Igel, ein Gefiederter, ein Hase und ein Pferd! Wir kennen diese Teilwesen nur zu gut, und wir kennen die Aufgabe, uns durch sie von ihnen zu emanzipieren.
Das Leben ist ein Weg, eine Suche. Der Weg aus der Unvollkommenheit, der Abhängigkeit von Gier, wiederkehrenden Gedankenschleifen, Träumereien, Trotz, Sehnsüchten, Angst und Verzagtheit über den Weg der Erfahrungen hin zu einem zunächst unbekannten Ziel; ein Weg durch immer neue Prüfungen – hin zu unserer Ganzheit. Erst wenn wir alle „Tiere“ in uns angenommen und dadurch integriert haben, werden wir im eigentlichen Sinn zum ganzen Menschen.
Das Leben ist der Weg des Ver-zwei-felten, besser gesagt des Ver-hundert-sten, hin zu seiner Einheit.
Jedes Märchen ist ein Bild des Lebens. Es beschreibt die Prüfungen, das Bestehen der Prüfungen und das Ziel. Das Märchen bildet das Leben ab und bildet uns fürs Leben.
Märchen bereiten Kinder auf das Leben vor: Das Eselein und alle anderen Figuren rufen ihnen zu: Du wirst alle Schwierigkeiten bestehen, du bist stark, mutig, klug und innerlich vollkommen. Diese Zuversicht ist eine Entwicklungskraft ersten Ranges!
Erwachsenen geben Märchen Bilder an die Hand, das bisher Erlebte bewusst nachzubetrachten, den augenblicklichen Standpunkt auf der Lebensreise ins Auge zu fassen und die (notwendigen) nächsten Schritte ins Auge zu fassen. Wie weit bin ich mit meinem Wolf? Habe ich alle Gier und allen Neid bereits durch Liebe ersetzt? Wie weit bin ich mit meinem Igel? Igel ich mich an manchen Stellen immer noch ein oder kann ich stachellos kommunizieren? Wie weit bin ich mit meinem Häschen? Laufe ich noch vor irgendetwas davon oder stärke ich meinen Mut jeden Tag in genügendem Maße…
Jedes „Tier“ ist im allegorischen Sinn eine Aufforderung.
Die meisten Erwachsenen erleben sich als unvollkommen. Manche haben schwere Probleme und Krankheiten, die meisten aber erleben: Meine seelischen Fähigkeiten meine Entwicklung reicht noch nicht aus, um in meinem Leben das zu verwirklichen, was ich eigentlich will. Ständig „stört“ eine Schwäche, die ich überwinden will. Dieses „Stören“ ist ein Geschenk, ein Bewusstwerden, wenn ich es bemerke. Oft liegt es knapp unter der Bewusstseinsschwelle – und da sind Märchen, besonders Tiermärchen, ein hervorragendes Mittel zur Selbstbeobachtung. Sie befeuern die Suche. Beim Kind bleiben sie im Bild, sollen sie im Bild bleiben und wirken als solches unbewusst in die stärkenden Zuversichtskräfte. Beim Erwachsenen impulsieren sie die Selbsterkenntnis.
Hört die Suche auf, wird aus ihr die Sucht. Denn jede positive Regung hat ihr negatives Gegenbild. Schauen wir die Gegenbilder vorbehaltlos, bedingungslos, schonungslos an, weisen sie uns auf unsere Aufgaben und neuen Möglichkeiten hin.
Der Alkohol- und Drogensüchtige versucht (vergeblich), eine heile Welt zu erleben, ohne Konflikte bewusst auszutragen. Der Nikotinsüchtige versucht, den Atem der freien Kommunikation durch Rauch zu ersetzen. Der Ruhmessüchtige ersetzt das Selbstbewusstsein durch den Beifall anderer. Der Arbeitssüchtige betrügt seine Suchimpulse durch Übertätigkeit. Auch gibt es die Sucht, seine eigene Suche durch das dogmatische Befolgen bestimmter Lehren zu ersetzen. Es gibt die Kritiksucht, die Perfektionssucht, die Sich-opfern-Sucht, die Herrschsucht und viele andere – und für jede Sucht gibt es im Märchen ein Tier!
Daneben finden sich die positiven Bilder, die Tiere der Weisheit, der Demut, des Mutes und des Sich-Aufschwingens in die Höhe des befreiten Geistes.
Unsere Kinder können wir stärken, mit recht viel gesunder Märchennahrung. Uns selbst, indem wir die Märchenbilder auf unserer erwachsenen Bewusstseinsstufe als Bild auflösen und dadurch erkennen. Dabei kommt es weniger darauf an, „richtig“ zu interpretieren, sondern mehr darauf, es im freien Spiel von Gedanken und Fantasie zuzulassen. Denn „richtig“ gibt es beim Märchen nicht, sondern nur stimmig. Die tiefenpsychologische Methode der Märchendeutung hat ebenso seine Berechtigung wie die materialistische, die esoterische genauso wie die historisierende. Problematisch werden alle Methoden dann, wenn konkrete Bilder oder Aussagen verallgemeinert, verabsolutiert werden; wenn eine berechtigte Sichtweise, die einen Aspekt darstellt, zum allein gültigen Prinzip erklärt wird. Damit geht man am Makrokosmos „Märchen“ vorbei und begrenzt sich – unnötig.
Das Märchen fordert Freiheit. Das Märchen ist uralt – und gleichzeitig absolut neu!
Vorhang Auf! Das Leben ist märchenhaft!
Eckehard Waldow
Aus VORHANG AUF Heft 86 Tiermärchen
Liebe Frau Reinhardt,
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Lieber Herr Waldow,
Seit über 14 Jahren bin ich ausgebildete Märchenerzählerin. Seitdem erzähle ich besonders Kindern in der Schule, auf Märchenspaziergängen aber auch Erwachsenen, Alkoholsüchtigen, Senioren und Menschen am Lebensende im Hospiz so gerne Tiermärchen. Das Eselein ist mein Lieblingsmärchen! Der Artikel ist wunderbar, den Sie verfasst haben! Darf ich ihn auf meiner Webseite posten? Ein Lehrer fragte mich letztens, ob Märchen wertvoll für die Kinder wären. Ihr Artikel ist die perfekte Antwort. Märchen erzählen ist meine größte Freude geworden, obwohl sich nur wenig Menschen in letzter Zeit dafür interessieren. Das Ablenkungsprogramm ist selbst in Wuppertal enorm geworden. Märchenfiguren, die herum laufen, sind wichtiger geworden, als die erzählten Märchen selber. Seit Jahren erzähle ich in Schloss Burg/ Solingen und mache gerade die traurige Erfahrung.
Ich würde mich sehr über eine Nachricht freuen!
Herzliche Grüße
Ingrid Reinhardt
Märchenerzählerin
Aus Wuppertal